Psychoanalyse im Wandel
Name Autor, August 2000
Die Psychoanalyse blickt auf eine über 100-jährige Entwicklungs- und Entstehungsgeschichte zurück, das Psychoanalytische Institut Bremen auf eine über 50-jährige. In dieser Zeit des Wandels hat sich die Psychoanalyse in Theorie und Praxis ständig erneuert.
Was aber ist Psychoanalyse heute? Wie sieht psychoanalytische Wissenschaft, Praxis und Anwendung heute aus? Was kann die Psychoanalyse als therapeutisches Verfahren, als Wissenschaft und Methodik für die Zukunft leisten? Wie kann oder muss sie heute vermittelt werden?
Diese Fragen werden in der Fach- wie Laienöffentlichkeit sehr divergent diskutiert. Die einen sehen die Psychoanalyse als ein Fossil des vergangenen Jahrhunderts und ihr Ansehen schwinden. Andere sehen in ihr mehr denn je eine Wissenschaft und Profession der Zukunft.
Ziel der Psychoanalyse sollte es sein, das Unbewusste aus Abläufen, Funktionen und Strukturen des psychischen Apparates heraus zu verstehen.
Unbestreitbar ist, dass die Psychoanalyse seit den Schriften Sigmund Freuds eine enorme Veränderung, Erweiterung und Differenzierung erfahren hat und heute auf eine Vielfalt unterschiedlicher Theorieansätze und Anwendungsformen zurückblickt. Mit der „Entdeckung“ des Unbewussten postulierte Freud eine eigenständige psychische Struktur und grenzte diese von den Strukturen bewusster kognitiver Prozesse, dem Erkenntnisgegenstand einer dem naturwissenschaftlichen Paradigma verpflichteten Psychologie ab. Für Freud war die Anerkennung des Unbewussten das „Schibboleth der Psychoanalyse“ (Losungswort der Psychoanalyse). Freud verstand das Unbewusste als Ausdruck eines lebensgeschichtlichen Sinnes des Menschen – auf dem Hintergrund der jedem Menschen eigenen Biographie, Erfahrungen, mitmenschlichen Beziehungen, Gefühle und Motive. Ziel der Psychoanalyse sollte es sein, das Unbewusste aus Abläufen, Funktionen und Strukturen des psychischen Apparates heraus zu verstehen.
Ausgehend davon entwickelte Freud das ursprüngliche triebtheoretische Konzept der Psychoanalyse mit Betonung der psychosexuellen Entwicklung, das im weiteren durch die ich-psychologischen, objektbeziehungs-theoretischen und selbstpsychologischen Konzepte ergänzt und relativiert wurde. Kleinkindforschung, Affektforschung und die „Wiederentdeckung“ der frühen Bindungstheorien führten in den letzten Jahrzehnten zu Konzeptualisierungen, die die Psychoanalyse wesentlich befruchtet haben.
Aus der ursprünglichen Triebtheorie entwickelten sich so in ständiger Reflexion der praktischen Arbeit mit Patienten differenzierte Vorstellungen (Modelle) über die menschliche Entwicklung, über die innerpsychische Dynamik, über Motivations- und Verhaltensmuster von Individuen und Gruppen sowie ein reicher Fundus an klinischer Erfahrung.
Unverändert und grundlegend geblieben ist die mehrdimensionale Ausrichtung der Psychoanalyse – Psychoanalyse als psychotherapeutisches Verfahren, als Methode und als Wissenschaft.
Dank ihres umfassenden Verständnisses beeinflusste die Psychoanalyse in den zurückliegenden hundert Jahren andere Wissenschaften nachhaltig: Natur-, Geistes-, wie Human- und Sozialwissenschaften. Sie begründete wesentlich die Profession der Psychotherapie und zählt heute zu den wichtigsten Psychotherapieverfahren. Auf andere Psychotherapieverfahren hatte die Psychoanalyse großen Einfluss, analytische Konzepte wurden adaptiert und ihre Terminologie vielfach übernommen. Viele psychoanalytische Fachausdrücke wurden im Laufe der Zeit in die Alltagssprache aufgenommen, oft ohne Wissen um ihre Herkunft aus der Psychoanalyse.
Als moderne Methode zum Verständnis von Konflikten, Störungen und Krankheiten, wie sie sich innerseelisch und zwischen Individuen oder Gruppen entwickeln, ebnete die Psychoanalyse einer allgemeinen „Psychotherapie für Alle“ – einer Zukunftsvision Freuds – den Weg. In Deutschland ist dies in einem Maße realisiert wie in keinem anderen Land. Seit 1967 ist die psychoanalytische Psychotherapie als Krankenkassenleistung anerkannt und fester Bestandteil der Gesundheitsversorgung geworden, nachdem nachgewiesen werden konnte, dass analytische Psychotherapie überzeugende Behandlungserfolge erzielt, Krankheitskosten senkt und eine wirksame Prävention darstellt (u.a. Dührssen, 1962; Dührssen u. Jorswieck, 1965, s.a. Rudolf, 2000). Angewandte Formen der Psychoanalyse wie die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie oder die analytische Gruppentherapie wurden im Weiteren als wissenschaftlich anerkannte Behandlungsverfahren eingeführt. 1987 kam die Verhaltenstherapie als wissenschaftlich anerkanntes Verfahren in der gesetzlichen Krankenversorgung hinzu. Weitere angewandte Formen des Psychoanalyse wurden entwickelt, wie z.B. analytisch orientierte frühe Mutter-Kind-Interventionen, analytische Paar- und Familientherapie, analytische Teamsupervision, analytische Institutions- und Organisationsberatung, die breite Anwendung finden.
Mit den neuen Anwendungsformen der Psychoanalyse veränderten sich auch die Rahmenbedingungen psychoanalytischer Behandlung. Neben Freuds bekanntem klassischen Couch-Setting – nach wie vor ein wesentliches Behandlungs- und Erkenntnisinstrument – verfügt die Psychoanalyse heute über eine Vielfalt veränderter Formen des Settings, die den jeweiligen Bedingungen entsprechend adaptiert wurden.
Entsprechend der klassischen Form Freudscher Psychoanalyse war ihr Anwendungsbereich der Gründerjahre das junge und mittlere Erwachsenenalter. Heute umfassen die Anwendungsformen der Psychoanalyse die gesamte Lebensspanne, über die der frühen Mutter-Kind-Interventionen, der Kinder- und Jugendlichentherapie, des Erwachsenenalters bis hin zu denen des hohen Lebensalters. Die Bedeutung dieser jeweiligen Anwendungsbereiche dokumentiert sich u.a. in der Etablierung internationaler Fachgesellschaften, die den Spezifika der einzelnen Bereiche Rechnung tragen.
„Psychoanalyse im Wandel“ kann so verstanden werden als eine Psychoanalyse, die sich immerwährend um Aktualität, Neuformulierung und Adaptation vorhandener Erkenntnisse, Theorien und Anwendungsformen bemüht, wie es Freud selbst nachdrücklich gefordert hat. Die Psychoanalyse antwortet damit auch auf die dramatischen Veränderungen der Gesellschaft, die einen Wandel der Krankheitsbilder mit sich gebracht haben.
Bemerkenswert ist, dass wesentliche Inhalte der Psychoanalyse durch heutige Erkenntnisse anderer Wissenschaften, v.a. denen der Neurowissenschaften, untermauert werden, die zum Teil überraschende Übereinstimmung mit den Vorstellungen Freuds (z.B. über das Konstrukt des Unbewussten oder die Bedeutung des Traumes) zeigen.
Die Psychoanalyse ist aber nicht nur mit der Zeit gegangen, sondern hat auch in jeder Zeit Kontrapunkte zum jeweiligen Zeitgeist gesetzt und bewahrt. In einer Zeit, in der Erfahrungen von Innerlichkeit, Tiefe und Eingebettetsein in eine persönliche Lebensgeschichte und soziales Miteinander von Beziehungen einerseits gering geschätzt, andererseits aber auch ersehnt werden, kann die Psychoanalyse durch ihr Wissen um das Unbewusste erhellen helfen, was durch Rationalisierung und Ökonomisierung ausgegrenzt wird. Durch ihre Methode gelingt es ihr, in einer Zeit ungeheuren Anpassungsdrucks und Normierung Raum offen zu halten für die Suche nach authentischem Ausdruck der Wahrheit des Einzelnen und für die Reflexion individueller wie sozialer Entwicklung, was von großer Bedeutung bei der Behandlung psychischen Leidens ist.