Das Menschenbild der Psychoanalyse
Das Menschenbild der Psychoanalyse findet hier Erwähnung, weil es u. E. von essentieller Bedeutung für die Psychoanalyse ist und sie bedeutsam von anderen Psychotherapieverfahren unterscheidet.
Freud verstand Psychoanalyse als Wissenschaft, die keiner Weltanschauung verpflichtet sei (s. Neue Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW XV).
Dieses Verständnis ist dem heutigen Konsensus gewichen, dass auch die Psychoanalyse wie die meisten Wissenschaften auf einem Menschenbild mit normativen Implikationen aufbaut. Die weltanschauliche Basis der Psychoanalyse fußt auf dem Ideal der Aufklärung, dem Ideal von menschlicher Freiheit und selbstbestimmter Individualität. Dieses Ideal geht davon aus, dass die Freiheit des Individuums über die Entwicklung des Selbstbewusstseins im Sinne eines reflexives Wissen um die eigenen Gedanken und Motivationen erreicht wird. Die Psychoanalyse verbindet darüber hinaus dieses Ideal mit der Aufgabe und Fähigkeit des Menschen, Abhängigkeit, psychischen Schmerz und Konflikte zu ertragen. Nur ein psychischer Raum, der ein subjektives Spiel mit Bedeutungen, Gefühlen und Gedanken erlaubt, ermöglicht Freiheit und Individualität – in Grenzen.
Dieses Verständnis relativiert auch das häufig missverstandene hedonistische Konzept („Trieb gegen Gesellschaft“) zugunsten altruistischer und sozialer Fertigkeiten.
Dieses Menschenbild liegt allen psychoanalytischen Richtungen und Schulen zugrunde, auch wenn ihre theoretischen Konzepte teilweise sehr divergieren (zusammengefasst nach Strenger 1997). Es impliziert Grundannahmen, die für die Psychoanalyse und die psychoanalytisch orientierten Behandlungsverfahren von zentraler Bedeutung sind.
Solche Grundannahmen sind:
- Die Bedeutung unbewusster Dynamiken (Kräfte, die uns vorwärts treiben, ohne dass wir den Grund dafür sehen).
- Die Bedeutung des tragischen Elements in der menschlichen Existenz (die vergebliche Flucht vor den Schuldgefühlen, der Mensch in seiner Not).
- Die Bedeutung des antinomischen Elements der menschlichen Persönlichkeit (der Mensch in seinem Widerspruch).
- Die Bedeutung der Behinderung von kreativem Potential (der Mensch hat die Möglichkeit, sich von Hemmungen und Behinderungen zu befreien).
- Die Bedeutung der Fähigkeit zu therapeutisch wichtigen Lernleistungen (Verlernen, Umlernen, Neulernen).
So gesehen lässt sich das psychoanalytische Menschenbild der Aufklärung („Höre auf den Verstand!“) verbinden mit den Gedanken der Romantik bzw. einer romantischen Perspektive, wie sie z.B. in der Bedeutung des Unbewussten, der Gefühle, der Träume, der Kreativität enthalten ist („Höre auf die Gefühle!“). Freud selbst fühlte sich der Aufklärung verpflichtet. Die romantische, imaginative Tradition seines Denkens verleugnete er jedoch weitgehend.
Eine Leitidee der Psychoanalyse könnte demnach heute im folgenden Sinne formuliert werden:
„Habe den Mut, auf Deinen Verstand und auf Deine Gefühle zu hören!“