Was ist Psychoanalyse?
Psychoanalyse ist der Name
- eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind;
- einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet;
- einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen.*
An drei Charakteristika lassen sich die essentiellen Bestandteile der Psychoanalyse zeigen: am Erkenntnisgegenstand, der Erkenntnismethode und am spezifischen Setting.
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Erkenntnisgegenstand der Psychoanalyse sind die unbewussten Vorstellungen, Phantasien und Konflikte. Die Psychoanalyse fußt auf der Erkenntnis, dass uns innere Beweggründe vorwärts treiben, um die wir nicht wissen. Hier liegt der Schwerpunkt weniger auf spezifischen Inhalten, sondern mehr auf der Dynamik des inneren Erlebens. Soziokulturelle Veränderungen und Weiterentwicklungen der klinischen Methode haben dazu geführt, dass nicht mehr vorwiegend oder gar ausschließlich sexuelle unbewusste Inhalte des Analysanden den analytischen Dialog bestimmen, sondern dass das Verständnis der unbewussten Phantasien und des analytischen Prozesses erweitert und modifiziert wurde. Unbewusste Vorstellungen des Analysanden wie auch des Psychoanalytikers bilden ein Feld, ein Geflecht, welches der Analytiker mit Hilfe seiner geschulten Wahrnehmung zu entwirren versucht. Er versucht, die unbewusste Botschaft seines Patienten zu verstehen und auf sie zu antworten. Gemeinsam wird neuer Sinn konstituiert und ein Möglichkeitsraum für neue Erfahrungen geschaffen.
Dies wird gefördert durch die psychoanalytische Erkenntnismethode, den Äußerungen des Analysanden mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zu folgen und eine freie Assoziation inneren und äußeren Erlebens zu ermöglichen oder anzustreben. Der Fluss der sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen des Analysanden und der Fluss der inneren Antworten des Analytikers konstituieren einen Prozess, der analysiert wird, indem die unbewusste Übertragungsbedeutung, unbewusste Widerstände und Gegenübertragungsphantasien zur aktuellen therapeutischen Beziehung einem affektiven Verstehen zugänglich gemacht werden.
Das Setting der psychoanalytischen Situation (in der der Analysand in der Regel auf der Couch liegt, der Analytiker seinem Blick entzogen sitzt) bildet einen geschützten Rahmen, der Sicherheit, Intimität und Exklusivität garantiert. Im Behandlungsraum kann ein Entwicklungsraum für den Analysanden entstehen, der das Übertragungsgeschehen aufnimmt und die Regression des Analysanden ermöglicht. Die relative Neutralität („Abstinenz“) des Analytikers ermöglicht die relative Rücksichtslosigkeit des Analysanden; die Festigkeit des Rahmens erlaubt die Labilisierung der inneren Strukturen, beides Voraussetzungen für eine innere Veränderung. Bei allem Wissen um die Befreiung des individuellen Potentials weiß die Psychoanalyse aber auch um das tragische Element und die Begrenztheit der menschlichen Existenz und versucht, wie Freud es formulierte, das neurotische Elend „in allgemeines Leid zu wandeln“.
*Sigmund Freud: „Psychoanalyse und Libidotheorie“ (1923, GW XIII, S. 211)